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Den Landeschef zum Frieden auffordern?? …

… das mutet etwas kurios, spontan und wenig erfolgversprechend an, verleitet vielleicht sogar zu schulterzuckendem Kopfschütteln nach dem Motto, da kann Otto Normalverbraucher wohl wenig ausrichten. Dennoch: Genau das ist vor etwa 100 Jahren passiert, und ich schreibe diesen Artikel aus purem Erstaunen darüber, wie aktuell derartige Aktionen sind.

Aber der Reihe nach: Im letzten Jahr waren wir in Worpswede nahe Bremen im Urlaub. Die Tage waren angefüllt von Naturerlebnissen im Teufelsmoor einerseits und andererseits von Kunstwerken des Jugendstils und der Moderne, die es hier in dieser Künstlerkolonie vielfältig zu erleben gab. Wir waren begeistert von so viel Schönheit, so viel Eleganz und Kreativität, dass wir beschlossen, diesen Ort ein weiteres Mal aufzusuchen. Diese Künstlerkolonie, gegründet um 1900, und besonders das Schaffen Heinrich Vogelers (https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Vogeler)  der als deren zentrale Figur gilt, hatte es uns angetan. Wie passend, denn im Jahr 2022 jährt sich der 150. Geburtstag Heinrich Vogelers und folglich gibt es zahlreiche Ausstellungen und Betrachtungen zu seinem Lebenswerk.
Das Talent Heinrich Vogelers, Sohn eines Bremer Kaufmanns, machte ihn um 1900 schnell zum Liebling des wohlhabenden Bürgertums, denn er malte nicht nur ausgezeichnet, sondern schuf Kunstwerke für viele Lebensbereiche: Gartengestaltung und Architektur, Möbel und Inneneinrichtungen (bis hin zu prächtigen Kuchengabeln), Buchillustrationen und Grafiken trugen um die Jahrhundertwende seine Handschrift, Märchen und Gedichte stammen aus seiner Feder. Es sprengt den Rahmen, hier die Geschichte der ersten Generation der Künstlerkolonie genauer zu beschreiben.

Erlebnisse im ersten Weltkrieg ließen Vogeler zum Pazifisten werden. Sein Traum war das friedliche und gleichberechtigte Zusammenleben der Menschen. Für diese Idee, auch der Kommunismus beansprucht sie als Markenzeichen, engagierte er sich. Er wurde zunächst in seiner Heimat politisch aktiv und ging schließlich in den zwanziger Jahren in die Sowjetunion. Seine Werke, nun eher im expressionistischen bis kubistischen Stil verfasst, dienten fortan als Propaganda für die Sowjetunion. In diesem Land die von ihm ersehnte bessere Welt zu gestalten, diese Hoffnung, scheiterte oft an der Realität, an kleinlichen Vorgaben, an der Ablehnung seiner frühen Werke. Stalins Politik im Zweiten Weltkrieg brachte Vogeler zu Fall. Er besaß keinen sowjetischen Pass, wurde wie viele deutsche Exilanten zwangsevakuiert und starb 1942 einsam, völlig verarmt und krank in einem Kolchos in Kasachstan. 1952 gab sein Freund, der Schriftsteller Erich Weinert, Vogelers Lebenserinnerungen heraus, die er in Moskau begonnen hatte aufzuschreiben und dann in Kasachstan fortsetzte. In der Einleitung formuliert Vogeler den Wunsch: „Vielleicht kommt dieses Buch zu Menschen, die Wege suchen zum neuen Leben und in meiner Erzählung die Irrwege erkennen, die sie selber nicht mehr zu begehen brauchen.“

Genau hier setzt in den Worpsweder Museen im Jubiläumsjahr 2022 die große Ausstellung „Der neue Mensch“ (27.3. bis 6.11.2022) an. Ein Schwerpunkt ist dabei die Übertragung des politischen und sozialen Engagements Vogelers in die Gegenwart. Folglich heißt der Teil der großen Jubiläumsausstellung, über den ich berichten möchte „Aufbruch in eine neue Zeit“, zu sehen in der Großen Kunstschau Worpswede. Was hat aber die etwas ungewöhnliche Überschrift für diesen Artikel denn damit zu tun? Heinrich Vogeler hatte Anfang 1918 an Kaiser Wilhelm II.  einen Friedensappell gerichtet, verpackt in das „Märchen vom lieben Gott“ https://www.heinrich-vogeler.de/friedensbrief . Darin heißt es am Schluss als Aufforderung an den Kaiser: Setze an die Stelle des Wortes die Tat, Demut an die Stelle der Siegereitelkeit, Wahrheit anstatt Lüge, Aufbau anstatt Zerstörung. In die Knie vor der Liebe Gottes, sei Erlöser, habe die Kraft des Dienens.

Vor vernichtender Strafe für diesen mutigen Aufruf schützte ihn seine Berühmtheit, er wurde „nur“ eine gewisse Zeit in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen.

Was würden wir nun heute in unserer demokratischen Gesellschaft uns und den Regierenden zurufen, welches sind die Probleme unserer Zeit – so wird in Worpswede gefragt. Gegenwartskünstler aus diversen Regionen der Welt haben sich der Frage angenommen. Sofort fällt ins Auge, dass der Klimawandel ein zentrales Thema ist, denn er stellt unseren aktuellen Lebensstil in Frage. In fiktiven Schilderungen aus dem Jahr 2050 wird beschrieben und illustriert, wie der Alltag dann aussehen wird, dass es z.B. keine Inlandflüge mehr geben wird und Interkontinentalflüge nur noch nach langwieriger Antragstellung möglich sein werden. Sehr beeindruckt hat mich eine aus dem Jahr 2050 rückblickende bildliche Darstellung auf unsere heutigen Städte, die eher an eine Erdölraffinerie erinnern als an harmonische Stadtlandschaften. Optimistischer oder hoffnungsvoller war die Installation einer nigerianischen Künstlerin, die aus einem zerteilten Erdölfass grüne Zweige sprießen ließ, was mich an den grünenden Ölzweig aus dem Alten Testament erinnert - als Ausdruck der Hoffnung, dass die behutsame Nutzung der natürlichen Ressourcen auf dem afrikanischen Kontinent (hier des Ölreichtums im Niger) dem Wohl aller dienen wird. Auch Besucher der Ausstellung werden um Mithilfe gebeten, indem sie die Frage beantworten sollen: Welche Werte sind uns heute wichtig? Viele Antworten klebten auf Zetteln an einer großen Scheibe, edle Absichten sind relativ schnell formuliert und dazu dann Vogelers Aufforderung: „Setze an die Stelle des Wortes die Tat“.

 

Sehr gelungen fand ich die Umsetzung zum Thema Wahrheit und Lüge, die gleichzeitig die Problematik des Neofaschismus in unseren Tagen aufgreift. Briefmarken mit Hakenkreuzen, Originale aus der Nazizeit in verschiedenen Farben, waren wie ein Regenbogen angeordnet - der Regenbogen sonst ein Zeichen von Diversität und Toleranz. Eine Briefmarke im Regenbogen ist eine Fälschung, die man kaum sieht oder nicht sehen will – also aufgepasst!

 

Weitere Themen in dieser Ausstellung sind die Digitalisierung unserer Welt. Jedes Ereignis wird im Bild festgehalten – Fluch oder Segen?? Handyfotos machten die rassistischen Misshandlungen und den Tod von George Floyd überall in der Welt bekannt! Aber jedes verschickte Bild verbraucht auch Energie! Ein ziemlich verpixeltes Bild mit dem Schriftzug „I can´t breath“  lässt aber auch sofort den Gedanken an saubere Atemluft aufkommen.

Am Ende des Rundganges gibt es eine frei schwebende Lichtinstallation in dunklem Raum. Die Leuchten sind gegeneinander beweglich, strahlen mal heller, mal schwächer und zeigen wunderbar auf, wie alles rings um uns in einem sehr zerbrechlichen Gleichgewicht schwebt.

Ein Eingriff in diese (Um)-Welt hat drastische Veränderungen an vielen Ecken und Enden zur Folge – all das gilt es zu bedenken!!

 

 

 

 

Es fällt mir nicht schwer, weitere Beispiele dieser gelungenen Präsentation „Heinrich Vogeler – Der neue Mensch“ zu nennen, aber vielleicht regt meine Beschreibung auch an, sich selbst einmal mit Vogeler, der den Kaiser so mutig zum Frieden aufforderte, oder der Künstlerkolonie Worpswede allgemein und natürlich mit den aktuellen Fragen unserer Zeit zu beschäftigen. Es lohnt sich auf jeden Fall! 

 

 

 


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