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Wochenlieder in der Passionszeit – Teil III

Der vergangene Sonntag trägt nach der Ordnung des Kirchenjahres den Namen Oculi. Dieser Name leitet sich wiederum vom Beginn der lateinischen Antiphon ab: „Oculi mei semper ad Dominum, quoniam ipse evellet de laqueo pedes meos“ (Ps 25, 15); deutsch: Meine Augen sehen stets auf den Herrn, denn der Herr wird meine Füße aus dem Netz ziehen.

Die für diesen Sonntag bestimmten Wochenlieder sind

„Kreuz, auf das ich schaue“ (EG.E 22)

„Jesu, geh voran“ (EG 391)

 

Das Wochenlied „Jesu, geh voran“ korrespondiert mit der Kernaussage des Sonntags Oculi: Nachfolge heißt, sich frei zu machen von den Bindungen an Menschen, an Besitz, an die Vergangenheit … Wer Jesus nachfolgen will, muss verzichten lernen, darf nicht zurückschauen. Wer Gott ernst nimmt, muss Entscheidungen treffen für ein Leben in Liebe und Hingabe.“ (https://www.kirchenjahr-evangelisch.de). Im Übrigen ist „Jesu, geh voran“ aber kein Passionslied im eigentlichen Sinne und im Evangelischen Gesangbuch unter der Rubrik „Umkehr und Nachfolge“ eingeordnet.

Als Textdichter begegnet uns hier der stark vom Pietismus geprägte Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700 – 1760), der 1727 die Herrnhuter Brüdergemeine gründete. Der Graf nahm bereits Jahre zuvor Glaubensflüchtlinge, vor allem die Nachkommen der Böhmischen Brüder in seinem Gut Berthelsdorf bei Herrnhut auf. Der Ortsname Herrnhut dürfte den meisten von uns ein Begriff sein: aus dieser kleinen in der südöstlichen Oberlausitz gelegenen Stadt kommen u. a. die mittlerweile in über 60 Sprachen übersetzten Herrnhuter Losungen und die weltweit bekannten und beliebten Herrnhuter Sterne.

Zinzendorfs Lied, dessen tänzerische Melodie im Dreivierteltakt aus dem Jahre 1698 von dem thüringischen Hofkapellmeister Adam Drese stammt, kann man durchaus als einen „Gesangbuch-Klassiker“ bezeichnen, denn unzählige Generationen von Konfirmand*innen und Hochzeitspaaren wurden damit besungen und in ihren weiteren Lebensweg entlassen. Der Ruf „Jesu, geh voran“ möchte aber auch in schwierigen Situationen des Lebens Kraft schöpfen – gerade mit dem Blick „auf das Ende hin“, wie es in der 3. Strophe heißt. 

Vielleicht klingen für unsere heutigen Hör- und Sprachgewohnheiten manche der in diesem Lied enthaltenen Textpassagen ungewohnt. Empfindlichen Gemütern mögen beispielsweise Formulierungen wie „führ uns an der Hand …“ nicht leicht über die Lippen gehen. Wollen sich moderne, weitgehend selbstbestimmte Menschen überhaupt an die Hand nehmen lassen? Auch ein gewisser Frömmigkeitsbegriff, der den Text durchzieht, mag dem Einen oder der Anderen heutzutage auf den ersten Blick fremd oder sogar bieder erscheinen.

Dieses Lied ist eben unverkennbar ein Kind der Barockzeit, und als es 1721 geschrieben wurde, galten Hexenverbrennungen landläufig noch als christliche Handlungen. Das waren finstere Zeiten. Durchaus mögen dies auch andere Zeiten als die unsrigen gewesen sein, allerdings täte man diesem oder ähnlichen Texten Unrecht, sie nur aufgrund ihrer sprachlichen Eigenheiten vorschnell als „nicht mehr zeitgemäß“ abzutun oder perspektivisch sogar auszusortieren. Man sollte etwas tiefer gehen und zwischen den Zeilen lesen, denn dann können sich auch für die aktuelle Rezeption dieses Liedes gute Perspektiven eröffnen.

Was will uns der Dichter eigentlich vermitteln? Welche Fragen haben ihn und seine Mitmenschen seinerzeit an- oder umgetrieben? Die Herausforderung: Wie können wir den Text auf unser Leben im Hier und Jetzt beziehen? Was könnte man heute vielleicht auch anders formulieren? Dies scheint auf den ersten Blick unbequem und würde uns womöglich einige Mühe abverlangen. Aber ich stelle für mich persönlich immer wieder fest, dass eine solche Herangehensweise nachhaltiger und inspirierender sein kann als das bloße

„Absingen“ des einen oder anderen neuzeitlichen Textes, über den man ob seiner mitunter allzu einfältigen Sprache möglicherweise gar nicht mehr nachzudenken angeregt wird.  

Als Nikolaus Ludwig von Zinzendorf die Zeilen dieses Liedes dichtete, hatte er wahrscheinlich anderes im Sinn als Obrigkeitstreue und nach außen gezeigte Frömmigkeit, zumal er sowohl der konfessionell gespaltenen Amtskirche als auch dem Staat kritisch gegenüberstand. Es war ihm nicht daran gelegen, seine Zeitgenossen auf ein gesellschaftlich oder religiös angepasstes Leben einzuschwören – nein, er war gewissermaßen unangepasst und angetrieben von einer inneren, fast bedingungslosen Jesus-Frömmigkeit. Zinzendorf war ein unkonventioneller Mensch. Er setzte mit seinen Missionsbemühungen unter dem Dach der Herrnhuter Brüdergemeine Maßstäbe für ein gemeinschaftliches Leben. Er überwand dabei Konfessionsgrenzen, bereiste die halbe Welt und setzte sich u. a. für die Rechte der in der Karibik versklavten Afrikaner ein.

Zinzendorf ging es also nicht zuerst darum, einen wohlgeordneten bürgerlichen Lebenswandel zu propagieren, sondern um eine strikte Orientierung am Vorbild Jesu. Diese Jesus-Nachfolge erfordert auch manchmal, unangepasst zu sein oder sogar zu protestieren, wenn etwas diesem Vorbild Jesus nicht entspricht. Und es kann auch bedeuten, Gegenwind ertragen zu müssen, „niemals über Lasten klagen“ – so heißt es in der 2. Strophe. Im 119. Psalm steht „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege“ (Ps 119, 105): da wo unser Weg ausgeleuchtet ist, können wir sehen, wohin wir gehen und ob dieser Weg der richtige ist. Auch in diesem Sinne kann man dieses alte Lied vielleicht ganz neu verstehen und sogar heute noch gern singen. Ich lade Sie jedenfalls dazu ein. 

Jesu, geh voran – zum Mitsingen.

Bleiben Sie gesund und seien Sie behütet. 

Herzlichst,

Ihr Stefan Händel

Kirchenmusik Basdorf / Ökumenischer Kirchenchor Basdorf (ÖKB) 

 Alle bisherigen Lieder finden Sie auf der Seite des ÖKB verlinkt.

Liedtext