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Was war in Nürnberg eigentlich los und wen erreicht der Kirchentag denn wirklich?

ein anderer Blick auf den Kirchentag

Am Montag schrieb Pfarrer Ludewig nachdenkliche Zeilen im Nachklang zu dem am Sonntag beendeten 38. evangelischen Kirchentag. „Wen erreicht der Kirchentag überhaupt noch?“ Und setzte sich dann auch auf der Grundlage eines Kommentars von radioeins mit den Teilnehmerzahlen auseinander. Ich war in diesen Tagen wohl in einer anderen Filterblase, aber vor allem auch mit einer ganz eigenen biografischen Betroffenheit vor meinem Bildschirm und habe Gottesdienste, Debatten und Bibelarbeiten verfolgt. In Nürnberg, wo ich einen großen Teil meiner Jugend verbrachte, wurde ich konfirmiert, war in der evangelischen Jugend aktiv, wo wir eine Zeitung herausgaben, Partys feierten und wo wir als evangelische Jugendgruppe sogar eine Reise nach Paris machten (einschließlich eines Besuchs im Moulin Rouge!). Man schrieb das Jahr 1966 und ganz neu kamen die sogenannten „Jazz-Gottesdienste“ auf. Als 16-jähriger machte ich meine ersten Mikrofonerfahrungen in der Nürnberger Meistersingerhalle, wo ich vor 2000 Jugendlichen Fürbittengebet vortrug. Ich kenne also viele Orte und Kirchen, die jetzt in der letzten Woche Veranstaltungs-Plätze waren.

 

Das macht schon einmal einen ganz anderen positiven und heimatverbundenen (vielleicht auch etwas verklärten) Blick auf diese Veranstaltung. Viel wichtiger scheint mir aber, dass nach der erzwungenen Coronapause und der damit verbundenen massiven Zunahme digitaler religiöser Angebote, aus meiner Sicht der Nürnberger Kirchentag einen wichtigen Meilenstein in der Veränderung der evangelischen Kirche in Deutschland unter den Bedingungen der immer geringeren Zahl von Kirchensteuerzahlern darstellt.

Die Frage „Wen erreicht der Kirchentag überhaupt noch?“ muss ich als Teilnehmer der vier Kirchentage von 2010-17 unter anderem auch so beantworten: vor allem nicht die meisten „normalen“ Kirchengemeinden.

Als meine Frau und ich nach dem Hamburger Kirchentag im Basdorfer Gemeindehaus einen Bericht abgeben wollten, waren außer der Pfarrerin drei weitere Zuhörer erschienen. In Gesprächen habe ich oft gehört, dass vielen Christen-Menschen der „Circus Charakter“, der „Festival-Charakter“ fremd ist. Für mich dagegen waren die Foren oft Vergewisserung und Glaubensbestärkung. Und die Erkenntnis, dass die frohe Botschaft die wir zu verkünden haben, hochaktuell ist, und auch großen Anklang finden kann, wenn sie in aktueller Sprache und in aktuellen Formen präsentiert wird.

Von vielen Kommentatoren innerhalb und außerhalb der Kirche wurde der Nürnberger Kirchentag vor allem als ein Event der „Dialogfähigkeit“ bezeichnet. Die Meinungsverschiedenheiten zum Thema Krieg und Frieden, Flüchtlingssolidarität, Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe und die Haltung zur „letzten Generation“ spalten ja nicht nur außerhalb der evangelischen Kirche, sondern auch mitten durch Familien, Gemeinschaften, Freundeskreise und eben auch Gemeinden. Immer wieder habe ich gehört, dass dies aber auf dem Kirchentag nicht zu Entfremdung, sondern zum wirklichen Dialog führte, dazu „zu überlegen, ob der Vertreter der anderen Meinung nicht vielleicht doch bedenkenswerte Argumente hat“. Allein das ist in der Gesellschaft die als gespaltene Gesellschaft bezeichnet wird, (von der ich aber glaube sie wird gespalten und ist nicht gespalten) von größter Bedeutung. Wenn Christ*innen Brückenbauer sein können, wenn Christ*innen vorleben können, dass die krassesten Kontroversen im Dialog möglich sind, weil wir alle „Gottes Kinder“ sind, dann wäre schon viel gewonnen, und dann wäre die Relevanz von Religion und Kirche in der modernen Gesellschaft an dieser Stelle schon mal sehr bedeutend. Mir scheint, dass auf den Kirchentagen diese friedliche und freundliche Atmosphäre beim Austragen von thematischen Konflikten schon immer höher entwickelt war, als im Alltag im Kollegenkreis, bei der Familienfeier und auch in mancher Kirchengemeinde.

Nun bin ich nicht nur aus Liebe zu meiner fränkischen Heimat besonders interessiert gewesen, sondern auch, weil das Massentreffen deutscher Protestant*innen nach der Pandemie in viel stärkerem Maße als vorher Fragen digitaler Gottesdienste, und vor allem auch den Zusammenhang zwischen der analogen Gemeindearbeit und dem digitalen „Verkündigungsdienst“ behandelte.

Die Bedeutung dieser Entwicklung lässt sich aus meiner Sicht nun wirklich nicht mit der Anzahl der Kirchensteuerzahler beurteilen. Wenn man berücksichtigt dass die 15 einflussreichsten „Sinnfluencer“ ,also Pfarrerinnen und Pfarrer, die auf Instagram oder Facebook ihre religiösen, spirituellen und individuellen Anliegen offenbaren, eine Gesamtfollowerzahl von 150.000 Menschen hinter sich versammeln (also nur die 15 einflussreichsten!), dann lohnt sich über diese Resonanz nachzudenken.

Eine der bekanntesten Pfarrerinnen, die sich bei Instagram nennt @Theresaliebt (Pfarrerin Theresa Brückner aus Berlin Schöneberg) hat in einem knappen Interview für Deinen Sender Phoenix darauf hingewiesen, dass die ungemein schnell voranschreitende Individualisierung in den Bedürfnissen der Menschen für einzelne Kirchengemeinden es völlig unmöglich macht, auch nur ein Bruchteil davon „zu bedienen“. Im Internet, den sozialen Medien, finde ich gleich Gesinnte, ob es sich nun um christliche Mathematiker*innen, evangelische Schwule, religiöse People of Colour handelt oder was auch immer Hobbys und Neigungen sein können, bei denen ich den Austausch mit Menschen meines Glaubens suche.

Schließlich ist immer wieder hervorgehoben worden, dass es viele Menschen gibt, die aus gesundheitlichen, familiären oder beruflichen Gründen die analogen Gottesdienste nicht aufsuchen können, über das Internet Austausch und Verstärkung ihres Glaubens erfahren können.

Auch hier wurde immer und überall betont: es geht nicht um entweder oder, sondern um das sowohl als auch. Es geht nicht darum, die analoge Gemeindearbeit gegen die digitale ausspielen oder umgekehrt, sondern die unterschiedlichen Wirkungsmöglichkeiten zu beachten und ein friedvolles Nebeneinander ohne „innerkirchliche Neiddebatte“ (Zitat Theresa Brückner) zu leben.

Erwähnenswert bleibt für mich dann noch die Predigt auf dem Schlussgottesdienst. Sie war schon eine große Überraschung: Pfarrer Quinto Ceasar aus Ostfriesland forderte von den Kirchen: „das Ende der Tatenlosigkeit“. Er setzte sich vor allem mit der nach wie vor bestehenden Diskriminierung von People of Coulor oder auch queren Menschen innerhalb der Kirche auseinander und forderte:

„Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Wir sind alle die Letzte Generation.

Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Black lives always matter.

Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Gott ist queer.

Jetzt ist die Zeit, zu sagen: We leave no one to die.

Und jetzt ist wieder die Zeit, zu sagen: Wir schicken ein Schiff, und noch viel mehr.

UND wir empfangen Menschen in sicheren Häfen.

Safer spaces for all.

Jesus, selbst Flüchtling, Geflüchtete und Asylsuchende, sagt: Oeffney bitte nicht nur Eure Herzen. Öffnet auch Eure Grenzen.“

Diese durchaus streitbaren Thesen (https://www.youtube.com/watch?v=9WQc-5uQS3s) fanden begeisterten Anklang bei jenen, die Veränderungen in der Kirche herbeiführen wollen. Wenn also der Kirchentag sowohl Menschen, die sich von der Kirche als Organisation abgewendet haben, erreicht, als auch in die Kirche und die Kirchengemeinden hineinwirkt, dann ist es ja vielleicht doch keine Übertreibung, was die Veranstalter auf ihrer Schlusspressekonferenz für Lobesworte fanden: der Evangelische Kirchentag in Nürnberg sei ein „Sommermärchen“ und ein „Gänsehaut Ereignis“ gewesen.

Wenn Glaubensdinge Gänsehaut erzeugen, dann ist, dessen bin ich sicher, Gott im Spiel!

Mathis Oberhof